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Von wegen Handica geniale blinde Organisten

 

Die Tradition blinder Musiker und Organisten reicht weit zurück. Musik war eine der wenigen Professionen, in denen sie sich beweisen konnten: schon in der Renaissance wurden Antonio Cabezon und Francesco Landino gefeiert. Institutionalisiert wurde der Musikerberuf für Blinde nach einem nachhaltigen Erlebnis, dem Paris-Gastspiel der Maria Theresia Paradis (für die übrigens auch Wolfgang Amadeus Mozart ein Klavierkonzert komponiert hat). Paradis machte auf Valentin Haüy einen solchen Eindruck, dass er 1784 die erste Blindenschule der Welt gründete. Am Institut National des Jeunes Aveugles gab es ab 1826 auch regelmäßig Organisten-Klassen. 

 

Auch Louis Braille, der Erfinder der Blindenschrift, war dort Schüler bzw. Orgelschüler und später Dozent. Und auch er hatte dem Vorbild der Maria Theresia Paradis viel zu verdanken: er entwickelte das Notations-Setzkastensystem weiter, das für die Pianistin erfunden worden war und gute Dienste tat. Trotzdem bleibt die Blinden-Notation bis heute wesentlich komplexer als die Notation für Sehende.

 

Wie Paradis, so bewiesen auch die Musik-Absolventen des Institut des Jeunes Aveugles, dass das Schicksal der Blinden nicht die Almosen und das Betteln sein mussten. Die drei Orgeln des Instituts (alle drei gehen auf den legendären Orgelbauer Cavaillé-Coll zurück) sind noch heute Reiseziel vieler Musikstudenten aus aller Welt. Aus den Orgelklassen des Institut gingen einige bedeutende Organisten und Komponisten hervor. Der erste Schüler, der dann am Conservatoire supérieur regulär weiterstudierte (in der Klasse von César Franck) und mit einem Premier Prix die höchste Examensstufe erreichte, war Adolphe Marty. Weitere Absolventen waren u.a. Augustin Barié, Jean Langlais, Gaston Litaize, André Marchal und – last but not least – Louis Vierne. Dessen Nachfolger im Amt des Titulaire an Notre-Dame in Paris war bis vor wenigen Jahren Jean-Pierre Leguay, einer der berühmtesten zeitgenössischen Orgelkomponisten und Improvisatoren. 

 

Helmut Walcha, Konzertorganist und Professor in Frankfurt, soll die Blindenschrift nicht beherrscht haben. Er memorierte unter anderem das gesamte (!) Orgelwerk Johann Sebastian Bachs auswendig und spielte es auch auf Schallplatte ein. 

In jüngster Zeit ist der Musikerberuf für Blinde keine erste Wahl mehr. Die – meist günstigeren – öffentlichen Musikschulen machen den Blinden, die ohne reguläres Examen als Privatlehrer tätig sind, die Schüler streitig. Und das IT-Business bietet für junge Blinde weitaus bessere Verdienstchancen. Das Ende einer langen Tradition ist in Sicht. 

blinde Organisten
starke Frauen

Starke Frauen . . . 

 

Einige Instrumente – das beste Beispiel ist die Harfe – scheinen sich nach und nach zum typischen Frauen-Instrument entwickelt zu haben. Die Orgel dagegen war immer schon ein Instrument der „Gleichberechtigung“: Thais, die Gattin des Ktesibios, soll 270 v. Chr. überhaupt als erstes das Orgelspiel beherrscht haben. Inschriften bezeugen, dass Orgelspielerinnen im gesamten römischen Reich aktiv waren: u.a. gab es da eine Gentilla in Rom, eine Julia Tyrrania in der Nähe des heutigen Arles und Aelia Sabina in Aquincum, nahe dem heutigen Budapest.

 

Allerdings kam Caecilia, die sicherlich berühmteste Orgelspielerin, Heilige und Schutzpatronin der Musik mit der Orgel (mit der sie in der Ikonographie seit dem 15. Jahrhundert immer wieder abgebildet wurde) nur „in feindliche Berührung“. Als keusche Märtyrerin „… betete sie zu Gott während des Orgelspiels“ zu ihrer Hochzeit – „cantantibus organis Caecilia Domino decantabat …“–, hat aber, anders als es der Übersetzungsfehler behauptet, selbst keinen Finger gerührt, wenn es um’s Orgelspiel geht.

 

Immer wieder gelangten Organistinnen zu Berühmtheit: 

... Élisabeth-Antoinette Couperin: Frau des gefeierten Barockkomponisten, selbst nicht minder bewundert: „Sans que mon témoignage soit suspect, je crois qu’il est difficile de trouver une femme plus accomplie““Auch wenn man meinem Zeugnis vielleicht nicht trauen mag: Ich glaube, es ist schwierig, eine vollkommenere Frau zu finden“ (Gazette de France 1815) 

... Nadia Boulanger: In ihrer „Boulangerie“, der Kompositionsklasse am Pariser Conservatoire und ihren Sommerkursen in Fontainebleau unterrichtete sie so gut wie alle namhaften Komponisten der Moderne, die aus aller Welt anreisten.

... Renée Nizan: Als erste Organistin unternimmt sie 1931 eine Amerika-Tournee, der bis 1938 drei Welt-Tourneen folgten.

... Jeanne Desmessieux: Ihr Debut an der Seite ihres Mentors und „Maître“ Marcel Dupré war 1941 eine Sensation. Dupré sah in ihrer Persönlichkeit und Technik die Zukunft der virtuosen Orgel. Aber es kam zum Zerwürfnis.

... Rolande Falcinelli: Nachfolgerin von Marcel Dupré als Orgelprofessorin in Paris. Exzellente Interpretin, die das Gesamtwerk Duprés auswendig spielte. Lehrerin vieler international gefeierter Organisten.
... Marie-Claire Alain: Professorin am Conservatoire supérieur in Paris, an dem ihre Klasse bis in die 1990er Jahre eine der ersten Adressen für eine Karriere war. Das Bach-Gesamtwerk hat sie dreimal (!) komplett eingespielt, zuletzt mit historischen Fingersätzen.
... Pascale Rouet: Professorin und Förderin junger Komponisten. Eine Ikone der Neuen Musik – nicht nur in Frankreich.
... Jennifer Bate: Englische Konzertorganistin, enge Vertraute Olivier Messiaens.
... Rosalinde Haas: legendär wurde ihre Leistung, erstmalig das Gesamtwerk Max Regers auf CD einzuspielen.
... Gillian Weir: Von der Queen geadelt, vom Publikum gefeiert als Interpretin, Lehrerin und Broadcasterin. In ihren BBC-Serien trat sie nicht nur spielerisch perfekt auf, sondern stets auch mit farblich aufeinander abgestimmten Orgelschuhen und Kostüm. 

Frankreich und D

Frankreich und Deutschland

 

In europäischen Zeiten lächeln wir darüber — in den nationalistischen Zeiten des 19. Jahrhunderts aber, und insbesondere nach der Niederlage 1870/71, wurde auch die Musik zum hochpolitischen Thema. Dass die großen Namen, die wir heute einfach nur bewundern, etwa César Franck und Johann Sebastian Bach, „instrumentalisiert“ wurden, verwundert heute. Aber tatsächlich verdankt sich der Kult um die großen Namen der Musikgeschichte ein gutes Stückweit auch der Rezeptionsgeschichte, in der die Staaten in Kultur und Musik einen Teil ihrer nationalen Identität heraufbeschwören wollten. 

 

Tatsächlich ging die Kirchenmusik in Frankreich und Deutschland sehr unterschiedliche Wege. Nach der Revolution von 1789 wurden in Frankreich viele Chorschulen geschlossen; erst nach und nach und über den Umweg des katholischen französischsprachigen Belgien kam die Kirchenmusik wieder zurück. Eine nicht zu unterschätzende Rolle als Vermittler spielte der belgische Orgelvirtuose und Pädagoge Jacques-Nicolas Lemmens, der in Breslau bei dem Bachschüler Hesse studiert hatte und die Pariser Mitte des 19. Jahrhunderts mit Bachs Musik überraschte. Zu den Pionieren bzw. Wiederentdeckern der Alten Musik und insbesondere der Chormusik zählten in Frankreich Alexandre Choron, Louis Niedermeyer und übrigens auch der älteste Sohn des in Saarlouis gebürtigen Maréchal Ney, Joseph Napoléon de la Moskowa, der selbst komponierte, als Dandy bekannt war, der seinen großen politischen Einfluss nicht nur für die Rehabilitation seines Vaters nutzte (der als Hochverräter hingerichtet worden war), sondern auch für die Gründung 1853 der École Niedermeyer im Jahr 1853. Zehn Jahre zuvor hatte Moskowa bereits die Société de Concerts de Musique Vocale, Religieuse et Classique gegründet und den 11bändigen monumentalen Recueil des morceaux de musique ancienne herausgegeben. Erst nach mehr als 40 Jahren, 1896, bekam die Schule Louis Niedermeyers in der Schola Cantorum Konkurrenz. Damit hatte Paris, eine Stadt, die für Oper und Ballett schwärmte, mit der Orgelklasse des Conservatoire national drei Institute für die Ausbildung der Titulaires französischer Kathedralen. 

 

In deutschen Landen basierte die Musikpflege, aber auch der recht hohe Ausbildungsstand von Nachwuchsmusikern über viele Generationen auf der Kombination aus Lehrer und Organist. selbst in kleinen Landgemeinden sangen Schulkinder im Kirchenchor, und machten – je nach Talent und Eifer ihres Schulmeisters und Organisten – entsprechend früh Bekanntschaft mit anspruchsvoller Musik. Durch die Einführung der Lehrerseminare und die Gründung der Konservatorien (Leipzig 1843, Köln 1845, Stuttgart 1857 usw.) wurde die Ausbildung professionalisiert. 

 

César Franck, dessen Familie aus dem Raum Aachen stammte, wurde – nachdem er 1871 die Société nationale mitbegründet hatte und im Jahr darauf zum Professor am Conservatoire berufen worden war, zum Begründer der „französischen Schule“, aus der international gefeierte Organisten hervorgingen. Da Jacques-Nicolas Lemmens noch bei Hesse studiert hatte, behaupteten auch französische Organisten, dass Frankreich – nicht Deutschland – die Tradition Bachs lebendig halte. Der erste Organist, der das Gesamtwerk von Johann Sebastian Bach im Konzert gespielt hat, tat dies in den Nachkriegsjahren des Ersten Weltkriegs: es war Marcel Dupré. 

 

Was man voneinander hielt? Die Musik Max Regers oder Sigfrid Karg-Elerts blieb in Frankreich lange Zeit so gut wie unbekannt. Umgekehrt war es eine Seltenheit, in deutschen Kirchen Musik von Guilmant, Vierne oder Widor bewundern zu können. Aber es gab auch Ausnahmen. Der Domorganist Ludwig Boslet spielte – Frankreich und französischen Staatsgästen zu Ehren – in Trier Musik von Guilmant. Und Guilmant umgekehrt Werke von Boslet im Trocadéro in Paris. Auch der Orgelbauer Aristide Cavaillé-Coll, der für seine „französischen“ symphonischen Orgeln bis heute bewundert wird, bekam die Chance, viele französische Orgues classiques der Barockzeit, die in der Französischen Revolution zerstört worden waren, zu ersetzen, und perfektionierte seine Orgelbaukunst durch eine lange Studienreise, deren Route ein Deutscher, der Haydn-Schüler Sigismund Neukomm, für ihn festgelegt hatte, weil er Europa (und Übersee) als Orgelvirtuose bereist hatte. Auch in Deutschland ließ sich Cavaillé-Coll wiederum inspirieren, insbesondere von den Orgeln Eberhard Friedrich Walckers. Umgekehrt verbrachten bei Cavaillé-Coll namhafte deutsche Orgelbauer wie Wilhelm Sauer ihre Gesellenjahre, um zu lernen und sich zu perfektionieren. 1863 gründeten im grenznahen Boulay Johann Karl Härpfer, der bei namhaften deutschen Orgelbauern gelernt hatte, und der ehemalige Cavaillé-Coll-Mitarbeiter Nicolas-Etienne Dalstein ihre Werkstatt. 

 

Ein Vermittler zwischen Frankreich und Deutschland war auch der im Elsass gebürtige Friedensnobelpreisträger Albert Schweitzer, der sein Urwaldhospital in Lambarene auch durch seine Vortrags- und Konzertreisen finanzierte. Er hat auch mehrfach im Saarland Station gemacht. Seinem Orgellehrer Widor in Paris erschloss der mehrsprachige Theologe insbesondere den tieferen Sinn der Choralvorspiele Johann Sebastian Bachs.

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