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Musik

Hier erfahren Sie mehr zur Geschichte der typischen Gattungen der Orgelliteratur, zur historisch informierten Aufführungspraxis, aber auch zur Ästhetik der verschiedenen „Schulen“, zur besonderen Rolle Bachs, Mendelssohns und César Francks.

Musiktheorie

Jenseits von Technik und Innovation ... Musiktheorie

 

So spannend für „Ingenieure“ und „Techniker“ der Antike die Orgel als handwerklich ausgeklügeltes Instrument war, so beschäftigten sich keine der erstaunlich detaillierten Orgelbau-Beschreibungen mit der Stimmung der Pfeifen. Die Tonhöhen, das Stimmen und Justieren der Pfeifenlängen, das Erforschen der Intervalle und ihrer Proportionen, war Teil der Musiktheorie und damit höchste Wissenschaft. Die Musik bzw. Musiktheorie zählte neben Arithmetik, Astronomie und Geometrie zum Quadrivium der septem artes liberales, der sieben Künste, die ein gebildeter Mensch des Mittelalters, der Karriere machen wollte, an einer Artistenfakultät studieren sollte. So wie ein Mechaniker, der eine Wasseruhr herstellt, sich nicht mit Astronomie befassen musste, um die Messeinheiten der Zeit zu fixieren, so lagen Kenntnisse von Tonbeziehungen außerhalb des Knowhows eines Handwerkers, der eine Orgel anfertigte. Erst ab dem Mittelalter geschah die theoretische Berechnung von Tonhöhen und der Entwurf und die handwerkliche Arbeit an Instrumenten erstmals in Personalunion, nämlich in einigen Klöstern. 

 

Auch die Musiktheorie ging zurück auf die Berechnungen des Pythagoras. Der entdeckte in der Natur allerlei grundsätzliche Phänomene, die sich durch Zahlen beschreiben ließen: nicht nur im Visuellen, in der Geometrie (von der wir ihn meist heute noch kennen), sondern auch im Zahlenspiel der Algebra und in der Musik, die geradezu „magische“ Parallelen zueinander aufwiesen. 1 + 2 + 3 + 4 = 10 war eine seiner grundlegendsten Gleichungen. Wobei „1“ das kleinstmögliche Etwas, der geometrische Punkt war, „2“ Punkte die kleinste Strecke, 3 Punkte zum Dreieck angeordnet die kleinste Fläche und 4 Punkte der kleinstmögliche Körper (der Tetraeder). Und nicht nur das: teilt man klingende Saiten 1 zu 2, oder 2 zu 3, oder 3 zu 4, entstehen dadurch die perfekt harmonischen Intervalle der Oktave, Quinte und Quarte (die übrigens, was Pythagoras nicht wissen konnte, als eine Art „anthropologischer Konstante“ in allen Musikkulturen der Welt vorkommen). Hinzu kamen geometrische Gesetzmäßigkeiten, die Pythagoras durch Proportionen und Zahlenverhältnissen herausfand. Insofern galt die Musik lange Zeit als vollkommenes „klingendes“ Abbild ihrer Schwesterkünste Mathematik, Geometrie und Astronomie. 

 

Die Dissonanz wurde erst im Barock „entdeckt“ und „salonfähig“, als wichtiges Ausdrucksmittel für Musik, wie wir sie heute lieben: voller Emotion, Leidenschaft und Spannung. Die Musik der Vokalpolyphonie vor 1600 aber hatte das gar nicht als Ziel. Sie war als klingender Kosmos gedacht und konzipiert. 

 

Und die Orgel? Wir wissen aus Traktaten, dass schon früh auch mit Pfeifen und deren Längen experimentiert wurde. Freilich dürfte sich für die Klosterbrüder zwischen dem, was sie von Pythagoras (durch den Kirchengelehrten Boethius) wussten, und der klingenden Realität ein Dilemma aufgetan haben. Die Qualität harmonisch gestimmter Pfeifen war von mehreren Parametern abhängig: ihrer „Mensur“, einem komplexen Zusammenspiel aus Länge, Material, Durchmesser usw. 

Notation

Chorbuch, Stimmbuch, Tabulatur ... zur Notation mehrstimmiger Musik

 

Die mehrstimmige Musik hat ihre Voraussetzungen auch in der Notation: Nur wer Tondauern festlegen und messen kann (Mensuralnotation), weiß, wann welcher Ton in der einen Stimme mit einem anderen in der zweiten Stimme zusammentrifft und (un)harmonisch klingt. Ab dem 13. Jahrhundert wurde mehrstimmig komponiert, allerdings sind die frühesten Quellen keine Partituren, so wie wir sie heute kennen: mehrere Notensysteme übereinander, die ein klares Bild der einzelnen Stimmen und ihres Verhältnisses zueinander abbilden. Wenn mehrstimmig gesungen wurde, dann wurden dafür Stimmbücher genutzt. So wie heute im Orchester hatte jede Vokalstimme ihren Part, musste Pausen selbständig zählen usw. Oder es wurde aus einem Chorbuch gesungen, auf dessen Doppelseiten links oben die Zeilen des Superius standen, darunter die Zeilen des Altus, und so weiter, bis zu den Zeilen rechts unten für den Bass. Keine Partitur also, wie wir sie heute kennen. 

 

Aber woraus spielten Instrumente wie die Laute oder die Orgel, die als „perfekte“ Instrumente galten, weil sie in der Lage waren, mehrstimmige Musik zu spielen? Auch hier gab es lange noch, bis in die Zeit Johann Sebastian Bachs alternative Notationsweisen: Tabulaturen. Im Grunde sind sie vergleichbar heutigen „Griffschriften“, wie man sie von der Gitarre kennt. Ihre Symbole sind keine Noten, sondern Buchstaben, nebst weiteren Zeichen (z.B. Notenhälsen für den Rhythmus, ähnlich wie wir sie heute kennen). Die Qualität der Tabulaturen war unterschiedlich geeignet, was die Vollständigkeit der Mehrstimmigkeit angeht. Die spanische Orgeltabulatur etwa war – im Gegensatz zur deutschen Orgeltabulatur, die noch Bach genutzt hat, wenn er Papier sparen wollte – nicht in der Lage, alle Stimmen exakt abzubilden, für die Praxis aber doch ausreichend. Der Organist, der damit beispielsweise einen Chor begleitet hat, hat zwar nicht alle Stimmen exakt mitgespielt, aber die Harmonien trotzdem als Akkord richtig greifen können. 

 

Beim „Intabulieren“ bzw. „Intavolieren“ der Gesangsmusik für die „perfekten“ Instrumente blieb es allerdings nicht. Die Stimmen der vokalen Vorlagen wurden auf dem Instrument meist noch verziert und umspielt mit Diminutionen (aus kürzeren Notenwerten). Aus dieser Praxis entstand schon im 16. Jahrhundert eine eigenständige typische Art von Orgelmusik, die als „Choralbearbeitung“ noch lange gepflegt wurde. 

typische Gattungen

Typische Gattungen der Orgelmusik

 

In ihrer langen Geschichte war die Orgel auch immer eines der ersten Instrumente für Neue Musik, die sich als Gattung im Kanon der musikalischen Gattungen etabliert hat. Insofern finden Konzertbesucher in den Programmen häufiger Titel oder Untertitel, die auf diese Tradition barocker oder sogar vorbarocker Musikpraxis verweisen. 

 

Ostinato-Variation

 

Bereits in der Renaissance, also vor 1600, kam diese Art Musik in Mode, und sie bleibt bis heute in Jazz, Pop und in der Praxis der Improvisation aktuell. Eine bestimmte Tonfolge, oft im Bass, wird „ostinat“, zu deutsch „hartnäckig“ beibehalten. Dieser „Loop“ wird in jeder neuen Wiederholung musikalisch neu ausgestaltet in den Oberstimmen: harmonisch und rhythmisch verändert, bereichert durch allerlei Nebenstimmen, die eben nur eins beachten, dass sie in ihrem Einfallsreichtum zum ostinaten Thema passen. Einige Tänze wie die Passacaglia oder die Chaconne wurden ursprünglich improvisiert und auf der Grundlage der Ostinato-Variation immer neu variiert. Bei einigen Komponisten – wie Pachelbel oder Bach – wurde diese Gattung zu hoher Kunst. 

Praeludium

 

Ein lateinischer Name für eine ungemein lebendige, abwechslungsreiche und oftmals technisch hochvirtuose Musik. Das freie – lange Zeit ad hoc improvisierte – „Vorspielen“ auf dem Instrument wird um 1600 zur ersten genuin instrumentalen Gattung des „Praeludiums“. Sie war auch die erste Gattung, in der Virtuosen auf der Orgel geglänzt haben, da sie in ihrer musikalischen Ausgestaltung nicht festgelegt war und entsprechend Raum für Kreativität bot, auch für zirzensische Effekte. Einige erinnern an eine effektvolle Toccata „norddeutschen Stils“, manche an ein Perpetuum mobile, andere an den Schlagabtausch des Concerto grosso, während wieder andere polyphon gewoben sind, vergleichbar einer Fuge, aber eben doch freier und fantasievoller. 

 

Um 1600 – zu Beginn des musikalischen Barock – lockten die Orgelvirtuosen der ersten Stunde mitunter tausende Hörer mit dieser Art Musik in die Kirche, allen voran Girolamo Frescobaldi am Petersdom in Rom. Die Paarung des freien Praeludiums mit der gestrengen Fuge nach den Regeln (und Freiheiten) kontrapunktischer Kunst war übrigens nicht immer die Regel. Auch einige der „Präludien und Fugen“ von Bach, die heute im Konzert paarweise geboten werden, waren nicht als Diptychon konzipiert, sondern wurden später durch Herausgeber wegen ihrer gemeinsamen Tonart einander zugesellt.

Choralbearbeitung

 

Ein sperriges trockenes Wort für eine der faszinierendsten Gattungen der Musica sacra, für „Kunst über Kunst“ sozusagen. Ein Komponist nimmt sich ein Kirchenlied, einen Choral, als Vorlage, sowohl die Melodie, als auch den Textinhalt, und interpretiert ihn durch seine Musik. Kaum ein Instrument bietet für diese Bearbeitung so viele Farben, so viele Möglichkeiten, wie die Orgel. Choralbearbeitungen hatten im eigentlichen Sinn keine „dienende Funktion“, sie waren nicht primär als „Vorspiele“ oder Intonationen gedacht, sondern erklangen im Wechsel mit dem Gesang, der über viele Jahrhunderte von der Orgel unbegleitet gesungen wurde, angeführt von einem Praecentor. Lange Zeit war diese Gattung in der katholischen Kirche so gut wie unbekannt. Als Alexandre Guilmant am Pariser Conservatoire allerdings die ersten Choralbearbeitungen Bachs in die Hände bekam, soll er sie mit seinen Meisterschülern, darunter alle großen Namen der „französischen Schule“, wochenlang studiert haben. Guilmant selber wurden sie ein kompositorisches Vorbild.

 

Auch dieses Kapitel wird nach und nach fortgesetzt: Meditation, Sonate, Noël sind als nächstes an der Reihe. 

Aufführungspraxis

Historische Aufführungspraxis

 

Der Notentext verrät längst nicht alles über ein Werk. Insofern ist es durchaus sinnvoll, „historisch informiert“ ans Werk zu gehen, d.h. sich an dem zu orientieren, was man von Musikern und Gelehrten einer Epoche „aus erster Hand“ über ihre Musikpraxis erfahren kann. Während diese „historische Aufführungspraxis“ für viele Instrumente erst in jüngerer Zeit wiederentdeckt wurde, ist sie für Organisten schon lange quasi selbstverständlich. Sie sind sehr genau im Bilde über den Kontext der Musik, die historische Entwicklung des Orgelbaus und die damit verbundenen Möglichkeiten. Dabei geht es nicht darum, historisch „richtig(er)“ oder „authentisch(er)“ zu spielen, sondern darum, möglichst viele Quellen (und eben auch historische) als Inspiration zu nutzen für ein möglichst packendes, überzeugendes Musikmachen hier und heute und für die Zuhörerinnen und Zuhörer des 21. Jahrhunderts. 

 

Allerdings werden historische Quellen nicht immer genutzt: Anders als damals üblich, wird Barockmusik oft auf einem kleinen – meist kaum hörbaren – Orgelpositiv begleitet. Im Barock kannte man zwar auch Positive, doch war die Regel, das Continuo der Kirchenkantaten auf der großen Orgel – inklusive Pedal – zu spielen. Auch von Bach kennen wir die Stimme, die der Thomaskantor eigens im „Orgel-Ton“ notiert hat, da die Stimmung seiner großen Orgel von der der Orchesterinstrumente, die in seinen Kantaten mitspielten, um einen Ganzton abwich.

 

Bach hat nie den Gemeindegesang auf der Orgel begleitet. Seine Choralvorspiele, die die Melodie der Gemeindelieder kunstvoll kommentieren, waren als Vor-, Zwischen- oder Nachspiel gedacht. Angeführt wurde der Gemeindegesang von einem stimmkräftigen Praecentor

 

Auch die Stimmung der Orgel war noch bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein eine andere als heute. Statt der heute üblichen „wohltemperierten“, d.h. gleichschwebenden Stimmung, waren die historischen Stimmungen meist (leicht) ungleichschwebend. Da sich letztere (z.B. Johann Georg Neithardts Stimmung "für eine große Stadt“) trotzdem für die spätromantische Literatur (Reger, Widor usw.). durchaus eignen, kehren Organisten mittlerweile wieder zu ihnen zurück.

 

Ein eigenes Kapitel in der langen Geschichte der Orgel ist die Wiederentdeckung der „barocken“ Orgel in den Reformen der „Orgelbewegung“ des frühen 20. Jahrhunderts.

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